Entgrenzung: Ein Rollenkonflikt zwischen Videocall und Kinderbetreuung
Die Grenzen zwischen Beruf und Privat verschwimmen immer mehr. Homeoffice, Telearbeit, mobiles Arbeiten, Homeschooling sind nur einige Schlagworte aus dem Alltag vieler Arbeitnehmer*innen.
Vor der Corona-Pandemie befanden sich die meisten Arbeitnehmer*innen mit Bürotätigkeiten in ihren Betrieben. Ein geregelter Arbeitstag, der gewohnte Arbeitsort und der persönliche Austausch mit den Kolleg*innen gehörten zur täglichen Normalität.
Viele Unternehmer berichten mir von ihren Erfahrungen im Umgang mit der aktuellen Situation in der viele ihrer Mitarbeiter*innen auf einmal binnen kürzester Zeit von zu Hause aus arbeiten.
Ihre Erfahrungen zeigen, dass die Grenzen zwischen den privaten sowie beruflichen Bereichen - in denen vorher eine räumliche Trennung von Büro und Wohnort sowie Arbeitstag und Feierabend bestand - zu verschwimmen scheinen. Psychologen und Soziologen nennen dieses Phänomen „Entgrenzung“.
Heutzutage gehen Arbeitnehmer*innen nicht mehr acht bis zehn Stunden im Betrieb arbeiten und dann nach Hause. In vielen Berufen ist es möglich, jederzeit und von überall aus zu arbeiten.
Dieser Wandel bewirkt, dass berufliche Aufgaben viel stärker in den privaten Bereich vordringen und sich dadurch die Grenzen verschieben, bis hin zur Verschmelzung. Im eigenen Heim berufliches und privates miteinander zu vereinen und dies wieder voneinander zu trennen, ist eine Herausforderung der sich viele Arbeitnehmer*innen zum ersten Mal stellen.
Auch die Zielvorgaben ändern sich mit der Verschiebung des Arbeitsortes für einige Arbeitnehmer*innen. Absprachen werden auf einmal über andere Wege getroffen und statt klarer Anweisungen zur Dauer und Art der Tätigkeit, erfolgen diese Vorgaben neuerdings ergebnisorientiert. In vielen Bereichen ist genau das bereits eine Selbstverständlichkeit – in anderen entwickelt es sich zu einer neuen Art der Zusammenarbeit.
Vorteile von Homeoffice:
- Flexibilität am häuslichen Arbeitsplatz
- Freiere Arbeitszeitgestaltung
- Vereinbarkeit von Familie und Beruf
- Kein Arbeitsweg
- Kein Dresscode
Nachteile:
- Dauerstress durch permanente Erreichbarkeit
- „Nicht abschalten können“
- Höherer Grad an Abstimmung und Organisation
- Rollenkonflikte
Die Vorteile überwiegen häufig auf den ersten Blick. Trotz aller Freiheiten bedarf es dennoch festgelegter Rahmenbedingungen - entsprechend gesetzlicher und unternehmensinterner Vorgaben. Erreichbarkeiten sollten z. B. geregelt sein, um Erwartungshaltungen zu erfüllen und ein mögliches „schlechtes Gewissen“ zu umgehen.
Ich teile die positive Sichtweise zu den ortsoffenen Arbeitsmöglichkeiten. Dennoch beobachte ich zunehmend, dass die wichtigen weichen Faktoren der Kommunikation verkümmern. Gemeint sind damit die Mimik, Gestik, Gerüche und vor allem die gegenseitige Beziehung in Ergänzung zum Gesagten, welche in einem persönlichen Gespräch aufgenommen sowie übertragen werden. Eine weitere Anmerkung ist, dass Menschen sehr unterschiedlich arbeiten. Die „Boundary Theory“ beschreibt zwei verschiedene Strategien, wie Arbeitnehmer mit ihrer Arbeit und Privatem umgehen – ob getrennt („Segmentierung“) oder miteinander vereint („Integration“). Dementsprechend sind auch individuelle, menschenzentrierte und moderne Führungsstile erforderlich.
Die Vermischung von Berufs- und Privatleben kann bei denjenigen, die diese Bereiche üblicherweise stark trennen, Stress verursachen. Permanente Erreichbarkeit und der Anspruch mehr zu leisten, um das Privileg zu behalten von zu Hause aus zu arbeiten, sind nur zwei Beispiele dafür. Hinzu kommt der persönliche Rollenkonflikt zwischen den Lebensbereichen, wie beispielsweise der Spagat zwischen Kinderbetreuung, Homeschooling und Video- oder Telefonkonferenzen.
Um der Entgrenzung entgegen zu wirken, haben sich folgende Techniken bewährt:
- Fester Arbeitsplatz: Damit simulieren sie ihre Arbeitsatmosphäre, auch zu Hause.
- Routinen: Stellen sie auch zu Hause einen „echten“ Arbeitsalltag mit festen Abläufen her.
- Pausen einhalten: Stellen sie ihr Telefon in dieser Zeit möglichst auf einen Kolleg*in um, um Störungen zu vermeiden.
- Regelmäßiger Kontakt: Nehmen Sie regelmäßig an Telefonkonferenzen/virtuelle Teamsitzungen (1-2x pro Woche) teil, um in Verbindung zu bleiben, sich abzustimmen und auszutauschen.
- Abgrenzung durch Rituale: Umfasst ihr Arbeitsplatz ihre gesamte Wohnung, dann räumen sie nach Dienstschluss ihre Arbeitsutensilien zusammen. Alternativ schließen sie bewusst die Tür ihres Homeoffice-Büros. Auch ein ritueller Kaffee nach dem Herunterfahren des Laptops kann den Effekt der mentalen Abgrenzung erzeugen.
- Perspektivwechsel: Verlassen sie nach Dienstschluss bewusst das Haus/Wohnung. Gehen sie z. B. einkaufen, treiben sie Sport oder machen sie einen Spaziergang. Damit verlassen sie bewusst den beruflichen Raum und kehren in ihren privaten Bereich zurück.
Probieren sie die Varianten aus. Sie entscheiden, welche sich für sie gut und richtig anfühlt. Alternativ lassen sie sich einfach für eigene Varianten inspirieren.
Fazit: In den meisten regionalen Unternehmen fällt das Ergebnis aus den Erfahrungen mit den verschiedenen Arbeitsformen ähnlich aus. Die Mischung machts! Eine Mischung aus Präsenz und digitaler Arbeitswelt wird auch in Zukunft weiterhin Bestand haben, um die Vorteile beider Seiten zu nutzen. Dementsprechend werden sich auch die Arten der Zusammenarbeit und die Arbeitswelten vor Ort stetig weiterentwickeln.
„Stillstand ist keine Option!“ – entscheidend ist was Unternehmen aus den Chancen, die ihnen Corona trotz aller Umstände bietet, machen.
Ich hoffe, dass ich sie mit diesem Beitrag für ihre Arbeit inspirieren konnte. Bleiben Sie gesund und kommen sie gut durch die außergewöhnliche Zeit.
Quelle: Spektrum Psychologie, 01.2021 – Der Arbeit Grenzen setzen